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Vorsicht vor Wunderdiagnosen

"Wenn dein Werkzeug ein Hammer ist, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus." Die Tendenz, ein Problem nur so weit zu betrachten, dass man schon eine pfannenfertige Lösung parat hat, gibt es auch in der Medizin. Aber das ist gefährlich. Es kann nämlich zu grundfalschen Behandlungen führen.

Schlangenöl ist das Paradebeispiel für eine wundersam angepriesene, aber nutzlose Kur.
Schlangenöl ist das Paradebeispiel für eine wundersam angepriesene, aber nutzlose Kur.

Der Viagra-Effekt

Erektionsstörungen bei Männern waren ein Tabuthema: peinlich, unangenehm, unlösbar. 1998 wendete sich das Blatt. Pfizer brachte mit Viagra das erste Medikament gegen erektile Dysfunktion in Tablettenform auf dem Markt. Plötzlich wurde das Thema öffentlich und breit diskutiert, Männer suchten in Scharen den Arzt auf, womit auch die Fallzahlen wegen Erektionsstörungen sprunghaft anstiegen.

 

Der Mensch kümmert sich am liebsten um Probleme, für die er gleich die Lösung im Köcher hat. Das gilt auch für Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Die Wissenswelt der Medizin ist so ungeheuer gross, dass jede Fachperson Gebiete entwickelt, in der sie stärker oder spezialiserter ist als in andern. Sie kann virtuos werden in der Anwendung einer Behandlung, die ein grosses Detailwissen erfordert.

Gesundheit vom Marktschreier

Fachpersonen, die sich auf bestimmte Krankheiten oder Behandlungen spezialisieren, haben die Tendenz dazu, hinter jedem medizinischen Problem die gleiche Kankheit zu vermuten - schliesslich kann man die ja gut behandeln. Unterschiedliche Player spielen nach diesem Muster: Heilpraktiker, die ihr Verfahren anpreisen, Hersteller, die ein bestimmtes Nahrungsergänzungsmittel vertreiben, oder Arztpraxen, die sich auf bestimmte Diagnosen spezialisiert haben.

 

Und so werden gewisse Befunde schlagwortartig durch die Medien und Werbung gepeitscht: Vitamin B12-Mangel! Glutenintoleranz! Hirntumor! Darmpilz! Eisenmangel! Darum fühlen Sie sich mies! Das ist die ultimative Lösung! Die Krankheit steht quasi schon fest, noch bevor der Patient die Praxis betreten ht. Das mag im Einzelfall zutreffen. Aber die Realität ist kompliziert.

Seriöse Abklärungen machen Sinn

Denn viele Krankheiten äussern sich in sehr ähnlichen Symptomen. Müdigkeit ist zum Beispiel ein Symptom, dass vom Kommerz ziemlich stark bewirtschaftet wird. Von Eisen- und Vitaminmangel über Schlafprobleme bis hin zu Depressionen sind die möglichen Ursachen äusserst vielfältig.

 

Das Vorgehen, ähnliche Krankheiten voneinander zu unterscheiden bzw. auszuschliessen, bezeichnet man als Differenzialdiagnose. Dieser Prozess ist der womöglich wichtigste in der ganzen Medizin. Die sorgfältige Abklärung aller Symptome und das Auswählen von Tests und Untersuchungsmethoden sind entscheidend. 

 

Wir raten daher dazu, in der Apotheke nach Rat zum Problem zu fragen statt einfach nur nach einem Produkt, das von der Werbung oder von Freunden angepriesen wurde. In der Apotheke lassen sich schon einige Abklärungen und Empfehlungen machen. Wo es nötig ist, helfen wir den Leuten bei der Überweisung an einen Arzt.

Guter Rat spart viel Geld

Besonders in Zeiten, in denen sich auch Grossverteiler und Internetshops in das Geschäft mit Nahrungsergänzungen und medikamenten-ähnlichen Produkten einmischen, ist für Konsumenten die Versuchung gross, ein Produkt nach dem anderen zu kaufen, weil sie die scheinbar perfekte Lösung für ihr Problem bieten.

 

Auch bei medizinischen Behandlungen macht es Sinn, sich Zweitmeinungen einzuholen. In der Apotheke bieten wir solche zum Beispiel bei vom Arzt verschriebenen Medikamenten an. Dies unterstützt die korrekte Anwendung von Therapien und schützt andererseits von möglichen Risiken.

 

Nicht zuletzt ist es auch wichtig, Patienten vor unrealistischen Erwartungen zu schützen. Nicht erfüllte Hoffnungen können das Vertrauen nachhaltig zerstören. Im Zweifelsfall sind Konsumenten daher gut beraten, sich vorrangig Rat bei medizinischen Fachpersonen einzuholen, nötigenfalls bei verschiedenen. Jedes Produkt und jede Methode ist nur so gut, wie es eingesetzt ist.

Autor:

Florian Sarkar, eidg. dipl. Apotheker

 

Quellen:

https://www.nzz.ch/sieg-ueber-die-schwerkraft-1.660339